Eine Stunde Liszt

 

Am Flügel:  Michael Thalmann

 

 

 

DER LANDBOTE, 22. April 2005

 

Von RITA WOLFENSBERGER

 

... Michael Thalmann hat sich für seine "Stunde Liszt" im Theater am Gleis eine äusserst kluge Werkfolge ausgesucht, die übrigens beweist, dass er den ganzen Liszt in- und auswendig kennt, denn sie bestand aus relativ selten gehörten Stücken, die aber just alle wichtigsten Facetten von dessen Stileigenheiten charakteristisch enthalten: Die aussermusikalisch poetische Titelgebung zum Beispiel, die schon das impressionistische Verfahren vorwegnimmt. Dann: Die spieltechnischen Mängel wie auf- und niederwogenden Arpeggios und Skalenformationen, Oktavengeprassel, rapides Filigranwerk, Akkordrepetitionen und Tremoli als Begleitwerk, einstimmige Rezitativsoli, Verlegung der Hauptstimmen in baritonale Mitellage.

 

All diese Elemente - und weitere dazu - exponierte Thalmann gleichsam mit der "Vallée d'Obermann", in der sie praktisch alle vorkommen, und er behandelte und gestaltete sie mit der erwarteten Intensität, aber mit vorzüglichem Geschmack, ruhevoll in Pausen und Übergängen, sorgfältig in der dynamischen Formung der Steigerungen und namentlich der bruchlos geführten Diminuendi. Mit "Nuages" und "La lugubre Gondola" holte er die Gefühle ins Nachdenklich-melancholische zurück, um nachher einen erste Bravourhöhepunkt mit den beiden "Etudes d'Exécution transcendante" zu erklimmen, von denen namentlich der "Chasse-Neige" (der Schneepflug) mit seinen Abertausenden von schwirrenden Tremolo- und chromatischen Laufnoten sich in die Nähe des Exzessiven begab.

 

Ganz und gar in dessen Uferlosigkeit ergiessen sich die Réminiscences de Norma", mit deren Wiedergabe Thalmann sich in der Schlussnummer total verausgabte und ungeheueren Eindruck hinterliess. Künstlerisch ergiebiger waren zuvor jedoch die feineren Stücke "Gondoliera" und "Canzona" gewesen, in denen Terzenseligkeit und weiche Sinnlichkeit aufkommen durften und - wie schon vordem - die hohe Pedalkunst und nebst gelegentlich etwas forcierten Melodietongebungen vor allem die Sensibilität in leiseren Anschlagszonen restlos zu bewundern waren. Die Gedächtnis- wie die physische Leistung war ungeheuer, auch da während dem ganzen Rezital nicht applaudiert wurde. Umso stürmischer wurde Thalmann dann am Schluss mit Ovationen geradezu überschüttet.

 

 

 

 

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